Sie haben ihren ganz eigenen Zauber. Ikonen, das sind nicht irgendwelche hübsch gemalten Heiligengesichter oder Bibelszenen. Ikonen werden „geschrieben”, folgen einem ganz eigenen Reglement und sind eine jahrhundertealte Kunstform, die „Fenster zur Ewigkeit” öffnet. Was es damit auf sich hat, erklärt Kunsthistoriker Dr. Martin Feltes, Pädagogischer Direktor der Katholischen Akademie in Stapelfeld in unserem Interview (in der Galerie im Bild mit Kursleiterin Marianne Roggenland.)
Von Gaby Westerkamp
Cloppenburg
Frage: Ein altes Bild, wertvoll, kirchlich. Das verbinden die Meisten mit dem Begriff Ikone. Aber was unterscheidet ein hochklassiges biblisches Gemälde – seien es Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle, Leonardos „Abendmahl” im Mailänder Kloster oder der Wittenberger Altar von Lukas Cranach – von einer echten Ikone?
Dr. Feltes: Eine Ikone ist ein Kultbild der Ostkirche und wesentliches Element der orthodoxen Liturgie. Im Unterschied zu den großen Künstlern im westeuropäischen Kulturkreis bleibt der Ikonenmaler anonym. Der Ikonenmaler tritt hinter sein Werk zurück. Künstlerstolz ist ihm fremd, weshalb Ikonen auch nicht signiert sind.
Frage: Warum beschreibt man Ikonen auch „Fenster zur Ewigkeit“?
Dr. Feltes: Bei einer Ikone wird nicht die sichtbare und vergängliche Welt geschildert, sondern eine unsichtbare Welt geschaut. So wird auf Perspektive, Raumillusion und Beleuchtungseffekte mit ihrer Schattenbildung verzichtet. Ikonen sind gleichsam Fenster oder Tore in die Welt des Göttlichen. Über das sinnliche Erleben wird Übersinnliches ahnbar. Ikonen wollen nicht illustrieren oder belehren, sondern sind ein Medium der Transzendenz-Erfahrung. Eine Ikone ist eine Mittlerin zwischen der Unfassbarkeit Gottes und der Seele des Menschen.
Unsere Galerie zeigt Impressionen aus dem Ikonenmalkurs in der Katholischen Akademie Stapelfeld im Dezember 2021. Fotos: Westerkamp
Frage: Eine Ikone ohne Weihesegen ist…
Dr. Feltes: …natürlich auch noch eine Ikone. Aber durch die Segnung erhält eine Ikone ihre ganz besondere sakrale Qualität. In der Ostkirche ist die Segnung der Ikone unbedingte Voraussetzung für ihren Einsatz in der Liturgie, zum Beispiel bei Prozessionen.
Frage: Aus welcher Zeit und welcher Region stammen die ältesten bekannten Ikonen?
Dr. Feltes: Die ältesten Ikonen sind im byzantinischen Kulturkreis entstanden und können ins 6. Jahrhundert datiert werden. In dieser Zeit herrschte aufgrund des im Alten Testament ausgesprochene Bilderverbots ein erbittert geführter Bilderstreit: darf man von Christus, Maria und den Heiligen Bilder herstellen? In der Ostkirche wurde die Frage positiv beantwortet und mit einem „Echtheitszertifikat“ begründet. So soll es zu Lebzeiten Christi ein authentisches Bild des Gottessohnes gegeben haben, das sozusagen der Urtyp aller folgenden Christusikonen ist. Christus habe sein Antlitz in einem Tuch abgedruckt. Auf dieses Urbild beziehen sich alle späteren Christusikonen. Und auch von Maria wird berichtet, dass schon zu ihren Lebzeiten der Evangelist Lukas ein Bild der Gottesmutter gemalt haben soll. Solche Legenden und Geschichten über Ikonenwunder gibt es viele.
Frage: Wer hat vor Jahrhunderten Ikonen gemalt, wer malt sie heute?
Dr. Feltes: Von den Anfängen bis heute werden Ikonen in Klöster oder klosterähnlichen Gemeinschaften geschaffen. Aber natürlich kann jede und jeder Ikonen schreiben, wobei die innere Einstellung eine wichtige Voraussetzung ist.
Frage: Was sind die wichtigsten Vorgaben für die Ikonenmalerei? Sind die Motive frei wählbar?
Dr. Feltes: Es gibt ein festes Repertoire an Motiven für eine Ikone, auf das zurückgegriffen wird. Das sind in der Regel die durch Legenden begründeten Urbilder. Im Laufe der Jahrhunderte der Ikonenmalerei gibt es aber auch Veränderungen, eine Erweiterung des Motivrepertoires und auch deutliche regionale Unterschiede.
Frage: Welche Motive wurden/werden am häufigsten dargestellt und warum?
Dr. Feltes: Anfänglich konzentrierte sich die Motivwahl auf Christus und Maria, die dann durch Darstellungen von in der Ostkirche populären Heiligen wie die hl. Thekla oder den hl. Theodor bereichert wurde. Aber später haben sich auch erzählerische Darstellungen entwickelt, wie z.B. die Kreuzigung Christi, die Weihnachtsgeschichte oder Szenen aus dem Alten Testament.
Frage: Sind nur die Motive reglementiert oder auch Maltechnik und Handwerkszeug?
Dr. Feltes: Auch die Herstellung einer Ikone erfolgt nach festen Regeln, die sich bis heute auf mittelalterliche Malerhandbücher beziehen. Festgelegt ist ein Holzbrett als Bildträger, die Grundierung und der Einsatz der Farben, die mit feinen Pinsels aufgetragen werden. Nur so kann man sich dem Urbild nähern. Und die Farben sind immer Bedeutungsträger. Sie haben eine symbolische Kraft. So kündet das Rot von der Liebe der Gottesmutter zu ihrem Sohn aber auch von dem vergossenen Blut Christi am Kreuz.
Frage: Ikonen schimmern oft golden. Ist das echtes Gold?
Dr. Feltes: In der westeuropäischen Illusionsmalerei ist immer eine Beleuchtungsquelle rekonstruierbar, d.h. die Motive werden von außen beleuchtet. Durch den Einsatz von Blattgold leuchtet eine Ikone aus sich selbst heraus. Sie strahlt im Eigenlicht, was wesentliche Voraussetzung für die bannende Ausstrahlung einer Ikone ist. Deshalb wir auch Blattgold verwendet und nicht Goldfarbe. Gold erzeugt ein unfassbares, irreales Licht und lässt damit das Geheimnis Gottes aufleuchten. Zudem ist Gold uraltes Symbol für das Unvergängliche. Gold ist manifestiertes Licht.
Frage: Das alles klingt eher nach Handwerk als nach großer Kreativität…
Dr. Feltes: Aufgrund der festen Regeln fordern Ikonen natürlich nicht die menschliche Kreativität und auch keine künstlerischen Innovationen. Es geht auch nicht um Perfektion. Aber das Schreiben einer Ikone ist mehr als bloßes Handwerk. Es setzt eine Auseinandersetzung mit dem Bildmotiv und der Idee einer Ikone voraus, es fordert Ruhe und Stille. Ikonen laden ein zur Meditation. Uns in diesem Sinne ist die Herstellung einer Ikone ein meditativer Prozess und vielleicht auch ein religiöses Erlebnis.
Frage: Ikonen sehen wir meist als Werke des Altertums, in Kirchen oder in Museen. Ist diese Art der bildenden Kunst heute noch zeitgemäß?
Dr. Feltes: Die Faszination einer Ikone ist bis heute ungebrochen. Und gerade in unserer schnelllebigen Zeit, in der wir von Bildern umzingelt werden, besteht die Sehnsucht nach dem besonderen Bild, nach Bildern mit einer Aura des Heiligen. Ikonen sind Bilder himmlischer Stille im Kontrast zum höllischen Lärm unserer Alltagswelt.